Insgesamt sechs Kurzgeschichten enthält der Softcoverband und ist der erste Manga Taniguchis, der in deutscher Übersetzung erschien. Damit ist es allerdings längst nicht Jiro Taniguchis erste Arbeit. Und auch nicht der älteste ins Deutsche übersetze Comic von ihm. Das wäre Trouble is my business von 1983, welcher aber erst einige Jahre nach Der Wanderer im Eis bei uns erschien.
Der Klappentext vom Wanderer spricht von atemberaubenden Geschichten von Männern in Extremsituationen in der Auseinandersetzung mit der Natur. Das passt auch ganz gut, jedoch hatte ich anfangs Bedenken, dass es zu martialisch, zu heldenhaft zugehen würde. Nach wenigen Seiten aber war klar, dass ich mir überhaupt keine Sorgen darüber machen musste, „schreienden“ Männern zu begegnen (das war in Ice Age. Chronicle of the Earth der Fall). Denn gleich auf der allerersten Seite hatte Jiro Taniguchi mich mit seiner einsamen verschneiten Berglandschaft fest im Griff seiner Erzählung.
Von den Bergen zum Meer
Die sechs Kurzgeschichten führen uns durch unterschiedliche Landschaften, verschiedene Zeiten und viele Leben. Vom einsamen Wanderer, der in der titelgebenden Geschichte Der Wanderer im Eis durch die Berglandschaft an der Grenze zwischen Kanada und Alaska streift und dort auf in Not geratene Goldsucher trifft, wechseln wir in Wilder Weißer Westen in das Flusstal des Yukon. Begleiten dort zwei Männer, die mit einem Hundeschlitten die Leiche eines Lords transportieren und sich der Härte der Natur und damit auch den Wölfen stellen müssen.
Der Herr der Berge ist ein Mann, der seinen Sohn bei der Jagd an einen Bären verliert. Oder ist der Bär selbst der „Herr der Berge“? Mann und Bär stellen sich hier ihrem Schicksal, das verbunden zu sein scheint.
Eine ganz andere Stimmung transportiert dann die zunächst locker-leicht wirkende Geschichte Kaiyose-Jima. Die Muschelfängerinsel. Zart wie die Erzählung ist der blasse, ängstliche Junge aus Tokio, der zu seinen Großeltern ans Meer kommt, da seine Mutter für einige Zeit ins Krankenhaus musste. Dort findet er ein ungestümes junges Mädchen, dass ihm zeigt, was Leben heißt.
Ob Jiro Taniguchi in Die Shokaro Apartments Teile von sich selbst hat einfließen lassen? Diese Frage nach autobiographischen Elementen stellte ich mir beim Lesen dieser Kurzgeschichte über einen Mangaka. Er bewohnt ein kleines Zimmer in einem ehemaligen Bordell, das nur einen richtigen Blick nach außen zulässt. Über ein Dachfenster direkt in den Himmel. Und war da nicht gerade ein Gesicht?
Nach einer Vorlage von Akinobi Bogetsu entstand die Adaption Das Lied der Wale.
Unter dem arktischen Packeis weit draußen in der Tiefsee liegt der Walfriedhof. Das erzählen die seit Urzeiten überlieferten Balladen der Chiluk-Inuit.Der Wanderer im Eis. S. 204
Erzählt wird von einer sehr besonderen Beziehung zwischen einem Blauwal und einem Forscher, die in einem schicksalhaften Moment seinen Anfang nahm.
Faszinierende Fülle
Immer wieder beeindruckt mich Taniguchi mit seiner Zeichenkunst. Mit seinem so feinen Strich. Mit seiner Fähigkeit die Natur in ihrer Fülle so beeindruckend und real darzustellen, dass ich sie teils gar nicht mehr ausschließlich als Zeichnungen wahrnehme. Auch in diesem Band hatte ich stellenweise den Eindruck, er hätte Fotovorlagen eingebaut. Einige Panels musste ich sehr genau betrachten, um das typische schwarz-weiße Raster darin zu erkennen, da ich kaum glauben konnte, dass es sich hier nicht um eine Montage aus einem Fotohintergrund und gezeichneten Elementen handelte. Faszinierend wunderschön.
Auf den Seiten im Band Der Wanderer im Eis heulen Schneestürme mit Klängen, die ich beim Lesen hören konnte. Ich spürte die Weite des Landes im „Wilden Westen“, des Flussttals des Yukons. Echte Verzweiflung, echte Freude, echte Angst sind meine Begleiter beim Lesen dieses Mangas gewesen. Unfassbar real fühlte sich das Meer an, egal ob still und friedlich oder vom Sturm gepeitscht und aufbrausend. Allein in den Bildern konnte ich mich verlieren, war in kürzester Zeit an den Orten des Geschehens, konnte fast die Kälte in den oftmals eisigen Gegenden spüren. Und ebenso die Wärme in den Herzen der Charaktere.
Zusammengefasst bietet Der Wanderer im Eis eine immense Bandbreite an beeindruckender künstlerischer Schönheit. Es ist spirituell, lebensnah, voller Herzenswärme, menschlich. Zeigt die Radikalität der Natur und die Details des alltäglichen Lebens. Ich habe in diesem Manga so viel gefunden, das ich nicht erwartet habe. Für mich ein neues Lieblingswerk von Jiro Taniguchi.
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Der Wanderer im Eis
Geschrieben und gezeichnet von
Jiro Taniguchi
Genre und Leseprobe
Manga. Comic. Kurzgeschichten. Natur.
Eine Leseprobe gibt es beim Verlag schreiber & leser (ganz runter scrollen) : Leseprobe Der Wanderer im Eis
Noch ein paar Details
Erschienen 2006 im Verlag schreiber & leser, ISBN 978-3-937102-49-8, 240 schwarz-weiße Seiten, Softcover. Es gibt zwei verschiedene Ausgaben, ich habe die blaue mit dem weißen Elch auf dem Cover gelesen. Und ich habe 35 (!) Page Marker an die Seiten geklebt (Booknapping Backstage II: Rund ums Rezensieren.)
Geeignet auch für Comic-Einsteiger!
Im Podcast
Der Wanderer im Eis ist meine Empfehlung in Folge 4 unseres Podcasts 3 Frauen. n Comics. Der Comicklatsch
Den Comic habe ich als kostenfreies Rezensionsexemplar erhalten.
Meine Meinung ist davon völlig unbeeinflusst.
4 Comments
Kathrin
19. August 2018 at 11:35Hach, wieder ein Taniguchi, den man haben muss. Ich finde es spannend, wie Taniguchis Stil auf uns Lesende „abfärbt“ – dir geht es beim Lesen genau wie mir: Ich habe mich in deinen Worten zu seinen fotoähnlichen Landschaften und dem fast synästhetischen Wahrnehmen 1:1 wiedergefunden. :)
booknapping
19. August 2018 at 11:45Ja, Kathrin – diesen MUSST du wirklich unbedingt haben. Und ich werde jetzt bald mit „Die Gipfel der Götter“ anfangen. Kann es schon seit der ersten Story im „Wanderer“ kaum noch abwarten, da ich Großes vermute.
Liebe Grüße,
Sandra
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