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Comic neben Postkarten mit Skeletten

Als ich Anfang 2018 das erste Album der Reihe The Fall entdeckte und schon während des Lesens in meine ganz persönliche Kategorie der Lesehighlights einsortierte, sprach noch niemand über Corona und Covid-19. Das ist heute, im zweiten Halbjahr 2020 anders. Schon seit Beginn dieses Jahres ist es ganz anders. Und mitten rein erschien nun der zweite Band von The Fall. Das Softcoveralbum enthält die vorher als Heft erschienenen Kapitel 4 bis 6. Wer den ersten Teil noch nicht kennt, kann in meiner Rezension mehr über meine Begeisterung und den Inhalt lesen.

Und noch weiter bergab

Liam verlässt mit seinen Kindern Max und Sophie die Stadt, in der nichts als Tod, Gewalt und Chaos für sie bleiben. Allerhöchste Zeit also, zu verschwinden. In den Alpen wollen sie Unterschlupf bei den Großeltern finden. Eine durch und durch utopische und romantisierte Vorstellung, die aber den einzigen Strohhalm darzustellen scheint, an dem sich die kleine Familie jetzt noch festhalten kann. Bedroht von wildgewordenen Hunden, die auf der Suche nach Nahrung in den Dreien eine fette Mahlzeit sehen, hört Sophie ein Schreien aus dem Obergeschoss des Hauses. Oben angekommen, greift sie ohne Furcht vor Ansteckung das schreiende Baby, das sie neben seinen am Virus gestorbenen Eltern findet. Jetzt zu viert gelingt ihnen die Flucht knapp, geht aber lange nicht so reibungslos vor sich, wie sie es sich erhofft haben. Als es zu einem gewaltsamen Zusammenstoß mit einer bewaffneten brutalen Gruppe kommt, wird Vater Liam verletzt. Schwerer, als er seinen Kindern gegenüber zugeben will.

Als die Familie auf eine Art Außenposten in einem kleinen Bergdorf stößt, ist Liam bereits nicht mehr ansprechbar. Von Mitgefühl und Hilfe ist von den Menschen jedoch wenig zu spüren. Jeder ist sich selbst am nächsten. Und die Verrohung der Gesellschaft ist überdeutlich, hat die Menschlichkeit verdrängt.

Waffen. Gewalt. Macht.

Nach Ausbruch der Corona-Pandemie habe ich etwas gebraucht, bis ich mich an diesen zweiten Band von The Fall getraut habe. Jared Muralt hatte mich mit dem Beginn seiner Story sehr berührt, ich erzählte euch von einer Art Seifenblase, in der sich Liam, Sophie und Max bewegten. Als würden sie die Existenz des Virus, den Tod und das ausbrechende Chaos um sich herum verdrängen wollen durch engen Zusammenhalt und einem flüchtigen Hauch von Normalität. In den vorliegenden Kapiteln 4 bis 6 werden sie hart und schnell von der Realität eingeholt. Heraus aus ihrer Seifenblase, aus ihrer gewohnten Umgebung, hinein in eine schonungslose (Berg-)welt, die in ihrer eigentlichen Idylle von heftiger Gewalt und egoistischen Machtspielchen geprägt ist.

Mit Fortschreiten der Gewaltbereitschaft in der Gesellschaft, tauchte in mir der Vergleich mit einem Baum auf. Einem Baum, der über Jahre langsam und stetig wächst. Sich entwickelt, neue Triebe bildet, jedes Jahr blüht und Schatten spendet. Dann plötzlich in einem ruckartigen Ereignis wird er gefällt, die Krone stürzt zu Boden, die Äste werden vom Stamm entfernt und die Rinde vom Stamm geschält. Das geht sehr schnell. So wie der trudelnde Absturz des Gesamtsystems in The Fall. Selbst vor der friedlichen kleinen Familie macht die Gewaltbereitschaft schließlich nicht Halt. Dennoch bleibt noch immer Hoffnung …

Leseprobe Comic
© Jared Muralt / Tintenkilby

Absturz in Pastell

Muralts Zeichnungen sind fantastisch. Geprägt von sehr feinen Strichen füllen sich seine Panels mit dicken konturlosen Schneeflocken in einsamen winterlichen Berglandschaften. Mit Nahaufnahmen seiner zentralen Figuren, deren Gefühle in den Gesichtern deutlich ablesbar sind und immer mit einer Koloration in weichen, meine Seele beim Lesen beruhigenden Farben. Sein pastelliges Farbschema spielt sich größtenteils im Bereich rosa, violett, beige und grau ab. Mit perfekt gesetzten Spotlights hellt Muralt Mittelpunkte des Geschehens auf. Auch wenn ich die Stadtansichten des Künstlers in diesem Band vermisst habe (in denen kann ich gefühlt ewig versinken), ist sein Artwork grandios. Tolle Arbeit.

Nach der Lektüre von The Fall Vol. 1 dachte ich, dass die Story mit diesem zweiten Band enden wird. Stimmt aber nicht, es geht weiter in Kapitel 7 Das Haus am See und ich bin froh darüber. Denn die Geschichte der Familie ist nicht zu Ende erzählt. Die scheinbare Sicherheit hat sich mittlerweile aufgelöst und ich hoffe sehr, dass einiges noch wieder ins Lot zurückfindet. So wie ich hoffe, dass der von Jared Muralt skizzierte Verfall nicht auch Realität wird. Hier in unserer Welt, dessen Normalität, wie wir seit Corona wissen, auch wie eine Seifenblase zerplatzen kann. Und plötzlich ist die Welt eine andere. Bleibt die Frage: Was ist denn eigentlich Menschlichkeit?

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THE FALL VOL. 2
Jared Muralt
erhältlich in deutscher und englischer Sprache
erschienen 2020 bei Tintenkilby
88 Seiten, farbig, Softcover
ISBN 978-3906828329
Geeignet für Comiceinsteiger*innen (aber erst Band 1 lesen!)
Mehr fantastische Kunst von Jared Muralt gibt es auf seiner Webseite
Erhalten als kostenfreies Rezensionsexemplar
© Jared Muralt / Tintenkilby

Cover in Pastelltönen zeigt die Familie auf einem schneebedeckten Abhang
© Jared Muralt / Tintenkilby

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