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Science Fiction / Bloggerleben

Interview mit Nils Westerboer

Zwei Bücher liegen auf einem weiß-glitzernden Langflorteppich, eines der Bücher liegt aufgeklappt auf den offenen Seiten

Am 28. August 2023 wurden die Preisträgerinnen und Preisträger des Deutschen Science-Fiction-Preises bekanntgegeben. In der Kategorie Roman geht der erste Platz an ATHOS 2643 von Nils Westerboer.

Das folgende Gespräch haben Nils und ich Anfang Oktober mündlich geführt. Es wurde aufgezeichnet und anschließend verschriftlicht. Die Sprache ist daher nicht immer geschliffen und perfekt, wie ihr es sonst von Nils Westerboer kennt, sondern einem realen Dialog ähnlich. Damit bleibt die natürliche Authentizität eines echten Gesprächs zwischen zwei Menschen erhalten. Zeitlich befinden wir uns noch vor Übergabe des Preises am 21. Oktober 2023 auf dem BuCon in Dreieich.

Interview mit Nils WesterboerSandra + Nils auf der Leipziger Buchmesse
© booknapping.de

[Sandra] Hallo Nils und danke, dass du dir Zeit genommen hast. Ich freue mich total, dass wir jetzt miteinander sprechen, nachdem wir uns in Leipzig auf der Buchmesse gesehen haben. Das Allererste, das ich sagen möchte, ist, herzlichen Glückwunsch, du hast mit ATHOS 2643 den Deutschen Science-Fiction-Preis für den besten Roman gewonnen! Wie fühlt sich das an?

[Nils] Hallo Sandra, danke für die Einladung und die Glückwünsche. Es fühlt sich richtig toll an! Vor allem, wenn der Alltag durchwachsen ist und Sachen schiefgehen, dann kommt immer wieder so ein kleines Lächeln über mich …

[Sandra] Du warst mit deinem Roman Kernschatten schon einmal nominiert. Jetzt hast du gewonnen und stell dir vor, du kriegst 1000 Euro Preisgeld. Was machst du damit, Nils? Das ist ja eine riesige Summe :-)

[Nils] Meine Kinder haben mitbekommen, dass ich schon einmal für den Preis nominiert war. Und ich habe ihnen den Spaß erzählt, dass der Jury damals bei Kernschatten zu wenig Raumschiffe drin waren. „Aber Papa, jetzt schreibst du doch was mit Raumschiffen“, meinten sie. Darauf habe ich gesagt: „Ja, das mache ich jetzt.“ Und sie: „Was machst du dann mit dem Geld?“ Ich habe ihnen gesagt: „Wenn ich den gewinne, was ich nicht glaube, aber WENN ich den gewinne, dann teilen wir.“ Das wurde natürlich seither nicht wieder vergessen. Und heißt: Ich werde nicht allzu viel von dem Geld sehen, weil ich vor fünf Jahren den Mund ein bisschen zu voll genommen habe.

[Sandra] Aber wieso warst du der Meinung, du könntest nicht gewinnen? Also das wundert mich, weil ich sehr sicher war.

[Nils] Das siehst du doch nicht wirklich kommen. Ich habe speziell bei dem Buch gemerkt, wie unterschiedlich die Geschmäcker sind und was die Leute sich wünschen von so einem Buch. Es gibt immer wieder Rückmeldungen, man müsse ganz schön wach sein dabei und das Buch wäre nichts für abends zum Einschlafen. Jemand schrieb, du solltest das am besten morgens um acht lesen, ausgeschlafen am Küchentisch mit ein paar Nüssen (also Brainfood) und einem Glas Wasser. Dann könne man das genießen, ansonsten nicht. Ich war mir absolut nicht sicher, in welche Richtung das losgeht. Ob die Leute das jetzt mögen oder nicht, das weißt du ja wirklich erst hinterher.

[Sandra] Also für mich war „ATHOS“, ich kürze das mal ab, ein absolutes Highlight, das weißt du ja auch schon. Und ich brauchte auch keine Nüsse, Wasser oder irgendwas dazu. Ich habe auch überhaupt nicht gestockt beim Lesen, keine zusätzliche Zeit gebraucht, bis ich drin war, sondern, ehrlich gesagt, war ich froh, dass du es so geschrieben hast, wie du es geschrieben hast. So habe ich mich als Leserin ernst genommen gefühlt. Mir wurde nicht alles erklärt. Ich habe Wörter um die Ohren geschlagen bekommen, die ich so noch nicht gehört hatte. Ich wusste nicht, worauf es hinausläuft. Es ist nicht bunt ausgeschmückt, sondern eher konzentriert, wie … Orangensaftkonzentrat – Athos-Konzentrat, sehr reduziert auf das Wesentliche. Konzentrierst du im Schreibprozess längere Sätze und Abschnitte anschließend noch mal ein?

[Nils] Ja, ich versuche die Sachen so kurz zu sagen, wie ich kann, weil das meiste durch Länge nicht besser wird. Ich glaube, es gibt zwei Arten von Lesern. Es gibt die, die in die Welt so richtig eintauchen möchten und ein großes Interesse daran haben, wer mit wem warum was macht – und dann wird es lebendig durch viel Handlung, viele Wendungen, Seitenwechsel und so. Ich bin da eher ungeduldig. Ich möchte ein genaues Bild von den Leuten an sich, und ich will, dass in jedem Absatz mindestens ein Gedanke oder eine Formulierung drin ist, die herausfordernd ist. Du weißt, was ich meine, oder?

[Sandra] Ja, ich glaube schon.

[Nils] Dazu brauchst du ja nicht viel Platz, wenn die Herleitung der Gedanken nachvollziehbar ist. Und was du vorhin gesagt hast, es würde in „ATHOS“ nicht alles erklärt, im Grunde wird alles erklärt. Die Erklärung kommt nur nicht gleich. Sie kommt dann, wenn die Geschichte die Personen damit konfrontiert. Und ja, ich finde es, wenn ich Bücher lese, immer ganz schwierig, wenn ich merke, ich lese jetzt einen Abschnitt, der für mich als Leser geschrieben wurde und nicht die Perspektive einer Figur zeigt. Beispiel: Du hast einen Krimi, die Hauptfigur wird eingeführt mit zwei Absätzen Handlung, dann kommt der dritte Absatz und da kommt sowas wie: „Seit zwei Jahren besuchte er schon jeden Tag das Grab von Martha. Und wie immer legte er Blumen …“ und so weiter. Das würde die Person in dem Moment nie denken, dass sie jetzt schon seit zwei Jahren jeden Tag dahin kommt, sondern es ist für den Leser geschrieben. Sowas will ich vermeiden.

[Sandra] Ja, und ich finde das sehr angenehm.

[Nils] Und das macht’s halt schnell und halt, ja … vielleicht manchmal anstrengend, wenn man sonst eher dicke, stark erklärende Bücher liest.

Buchschnitt aus dem viele Haftnotizen rausschauen
© booknapping.de

[Sandra] Das ist natürlich immer alles Geschmackssache. Ob man sich darauf einlassen kann oder ob es einen vielleicht in dem Moment über- oder unterfordert. Ich weiß heute nicht mehr im Einzelnen die Bedeutung eines jeden Gegenstands, einer jeden Situation in „ATHOS“, aber ich habe so „Blitzlichter“. Das Buch liegt hier neben mir und ist gespickt mit Haftnotizen, mit denen ich Stellen kennzeichne, die mich besonders bewegt haben.

In der Kürze liegt die Würze, sagt ja ein altes Sprichwort und mich hat dein Roman gerade deswegen sehr beeindruckt. „Peripherie“ von William Gibson ist so ein Werk, an das ich mich erinnert gefühlt habe, als ich dein Buch gelesen habe, wobei der Zugang in „Peripherie“ sehr viel schwieriger für mich war. Gibson hat auch so eine Art sehr verkürzt und, ich glaube fast, eher für sich oder seine Geschichte zu schreiben, als dass er sagt, ich muss den Lesenden das jetzt so präsentieren, dass sie alles verstehen. Er hat auch keinen Data, der alles erklärt ;-) Damit würde ich es tatsächlich vergleichen.

[Nils] Vielleicht hat es auch wirklich mit Ungeduld zu tun. Ich glaube halt, es kommt auch wirklich darauf an, was dein Primärinteresse ist. Ich finde, Science Fiction muss natürlich eine gute Geschichte erzählen, aber das Primärinteresse bei SF ist für mich ein bisschen ein anderes. Sie wird nicht ohne Grund manchmal Gedankenliteratur genannt.

Ich war gestern Nacht zum Beispiel noch in dem „Creator“-Film von Gareth Edwards, dem Regisseur von „Rogue One“. Der hat jetzt einen Science Fiction-Film gemacht, der davon erzählt, wie die asiatische Welt mit KIs zusammenlebt und die amerikanische Seite, der Westen sozusagen, KIs bekämpft. Der Film ist sehr stark visuell. Du hast tolle Bilder von Robotern, die in tibetische Mönchsroben gekleidet beten und sowas. Dinge, die sozusagen thought-provoking sind, wenn du das als Bild siehst. Aber es wird an keiner Stelle wirklich thematisiert. Es gibt keine Auseinandersetzung mit diesen Bildern, sondern sie bleiben für sich, bleiben allein ästhetisch. Da ist halt ein Roboter in einer Mönchsrobe.

Genau so etwas habe ich in Star Wars zur Erschöpfung wirklich toll gesehen. Das brauche ich nicht noch mal auf der Erde. Da hat mir ein wenig der tatsächliche Science Fiction-Aspekt gefehlt in dem Film. Ich hatte gehofft, es kommt noch ein Gedanke dazu, den ich so noch nicht gehört habe. Und dann fiel einmal der Satz, “Ihr Maschinen, ihr habt viel mehr Herz als wir Menschen.” Das ist heutzutage, so viele Jahre nach Terminator 2, einfach ein bisschen wenig. Schon bei T2 hieß es: „Der Terminator war ein besserer Vater für John als alle echten Männer es sein könnten“ oder so ähnlich. Das gab es halt schon und ich finde, da muss man sich fragen: Was geht vielleicht auch noch so an Ideen und Gedanken?

[Sandra] Könntest du dir denn vorstellen, dass es tatsächlich auch „ATHOS“ auf der Leinwand, auf dem Bildschirm geben könnte?

[Nils] Man müsste das Skript auf zentrale Konflikte fokussieren und 12 Lesestunden auf 2 Filmstunden eindampfen. Aber klar, auf jeden Fall!

[Sandra] Ah, das ist hervorragend. Ich wüsste gar nicht, ob es was Animiertes oder Reales sein müsste. Ich glaube, es wäre mir sogar egal.

[Nils] Oh, ich glaub mir nicht.

Interview-Schnippsel

[Sandra] Kommen wir zu einem Punkt, der mir in „ATHOS 2643“ aufgefallen ist. Zum Ende hin. Ich habe während des Lesens immer mal wieder vergessen, wer da eigentlich zu mir spricht. Also, dass es die Perspektive der KI Zack ist. Und das Vergessen ist ja ein zentrales Thema, ohne jetzt spoilern zu wollen. Das war so ein richtiger Flash-Moment, als mir klar geworden ist, was das für eine Meta-Ebene im Buch ist. Ist dir das Vergessen von Anfang an ein Begleiter gewesen? Oder ist das etwas, was ich da jetzt einfach so rein interpretiert habe?

[Nils] Nein, das war schon zentral, weil ich mir lange überlegt habe, was die Unterschiede zwischen uns und den Maschinen sind. Und ich hatte irgendwann so einen Schlüsselmoment. Ich bin einmal in meine früheren Bestellungen bei einem Online-Händler gegangen und habe gesehen, dass ja bis 2002 alles noch drin ist, was ich jemals bestellt habe. Da steckt das halbe Leben drin. Es heißt ja, dass es ein Recht auf Vergessen gibt und das ist, glaube ich, genau der Punkt, der dir gar nicht klar ist. In unserer Welt verschwimmen die Spuren im mangelnden Gedächtnis aller Menschen. Und du aktualisierst deine Erinnerungen ja auch permanent anhand deines momentanen Befindens. Also wenn du dich von einem Partner trennst, dann siehst du plötzlich auch deine Erinnerungen mit anderen Augen und denkst, nee, das und das war eigentlich doch nicht gut und ich habe es nur nicht richtig gesehen. Und baust sozusagen dein ganzes Leben im Nachhinein nochmal anders zusammen, aber immer unter dem Eindruck des Jetzt. 

Eine Maschine, die sich, wie so ein Online-Händler, alles merkt – das muss anders sein. Es kann gar nicht dasselbe sein wie bei uns. Die kann gar nicht die Distanz zu ihrer eigenen Vergangenheit entwickeln, wenn sie ihr immer noch genauso vor Augen steht wie das Jetzt. Das kam beim Schreiben, ich bin da ehrlich, das war nicht gleich am Anfang so. Aber im Laufe des Schreibens wurde mir klar, dass das eigentlich der für die Perspektive von Zack zentrale Aspekt sein muss.

Das menschliche Erinnern an Vergangenes könnte mit dem Eindruck vergleichbar sein, den ich von der Zukunft habe: Wie in einer Erinnerung gibt es da Klares und Verschwommenes, Sicheres und Unsicheres. Manche Dinge treten zu Tage, als wären sie schon gewesen. Das sind die Ereignisse, die unausweichlich sind, die so kommen, wie sie kommen müssen. Vieles, wenn nicht das meiste, liegt aber auch wie in einem Halbschatten vor mir, ist unscharf oder weit weg, obwohl manchmal nur noch um Sekunden entfernt. Je nachdem, welche Maßstäbe ich an das Vergangene anlege, wandelt dieses Erinnern an die Zunkunft die Zukunft.

ATHOS 2643, S. 166/167 von Nils Westerboer©2022 Hobbit Presse – Klett-Cotta Verlag

[Sandra] Interessant und wie ging es dir selbst damit? Du, als Mensch, wirst ja beim Schreiben vielleicht auch Dinge vergessen haben. Hast du dich dann selbst erinnern müssen oder erinnern lassen? Wie hast du das gemeistert?

[Nils] Das Glück ist, wenn du es schreibst, dann steht es ja irgendwo. Du kannst blättern. Ich erschaffe mir quasi durch das Buch, durch den Text, ein absolutes Gedächtnis, zumindest was den Faden des Buchs, den erzählten Lebensabschnitt der Charaktere angeht, weil du zurückblättern kannst. Ich habe, nachdem der Gedanke des Vergessens in den Text eingeflossen ist, sehr viel umgestaltet und ihn somit zentral werden lassen. Es gibt ja immer viele Fassungen, bis etwas ausgereift ist.

[Sandra] Wie war das dann im Lektorat? Entweder ist ja alles gut und es wird gar nicht viel gefordert zu ändern oder es muss sehr viel angepasst werden. Ich könnte mir vorstellen, das ist doch eine besondere Herausforderung, in „ATHOS“ jetzt nicht Sachen wegzustreichen, die eben nicht vergessen werden dürfen.

Cover Athos 2643
ATHOS 2643 © 2022 Nils Westerboer / Hobbit Presse

[Nils] Es gab eigentlich nur zwei große Änderungen. Ansonsten hatte ich das große Glück, dass der Verlag sehr vertrauensvoll mit dem Buch umgegangen ist. Stephan Askani von der Hobbit-Presse hat von Anfang an gesagt, dass es gut sei, wie es ist. Es gab allerdings Diskussionen über den Titel. Ich hätte es am liebsten einfach ZACK genannt, weil das die Perspektive und das Wesen ist. Und da waren wir auch eine ganze Weile konform. 

Aber dann gab es beim Verlag doch marketingmäßige Bedenken, ZACK klingt sehr kindlich, comichaft und weckt vielleicht eine falsche Assoziation mit dem Buch. So kam die Idee des Schauplatzes in Kombination mit der Jahreszahl als Titelgeber ins Spiel. Wir haben gesagt: Okay, das ist jetzt ein Science Fiction-Buch und die haben gerne mal so einen Ort und eine Jahreszahl im Titel. :)

Und die zweite Änderung war, dass Zack am Schluss ja etwas macht, was sehr einschneidend ist. Man muss sich ja in gewisser Weise ein bisschen verabschieden. Da gab es den Wunsch, dass der Abschied liebevoller ausgebaut wird. Das habe ich gut verstanden und dann auch gemacht (im Rahmen dessen, was an liebevollem Ausdruck möglich ist). Ansonsten durfte das Ganze, abgesehen von stilistischen Anmerkungen, weitgehend so bleiben, wie es war.

[Sandra] Das heißt, du bist auch jetzt im Rückblick rundum zufrieden mit deinem Roman?

[Nils] Ja, bin ich.

[Sandra] Das ist sehr schön. Das ist ja durchaus etwas, wo man auch oft hört, dass Menschen sagen, “Nee, also ich hätte dann doch lieber noch was geändert.”

[Nils] Ehrlich: Ich habe stark gehadert, als es rauskam. Das war meine erste große Veröffentlichung und ich war noch nicht professionell genug, nicht in die Reaktionen reinzugucken, die dann so kommen. Es gab schon einige, die eben Schwierigkeiten hatten, das wenige Erklären auszuhalten. Damals dachte ich: Fünf oder zehn erklärender Sätze hier und da, das wäre vielleicht doch gut gewesen

Da bin ich auch heute nicht ganz weg von, aber ich merke jetzt, dass gerade das zumindest den Leuten gefällt, die, wie du auch sagst, es gerade mögen, dass es auch noch ein Geheimnis gibt und die es auch aushalten, dass das Geheimnis eine Weile bewahrt bleibt und erst zum richtigen Zeitpunkt gelüftet wird.

[Sandra] Nicht jedes Buch kann jedem gefallen. Das ist einfach so. Nicht jeder Film gefällt jeder Person. Und es ist ja auch immer so eine Sache, welche Personen jetzt auf dieses Buch anspringen. Also was spricht sie an? Sehen sie das Cover und sagen, ah ja, das ist interessant und haben bei Science Fiction aber vielleicht Jugenddystopien im Hinterkopf? Dann werden sie vielleicht vor den Kopf gestoßen. Und andere vielleicht, die gerne William Gibson lesen oder Frank Herbert oder irgendwas, was in die Richtung geht, sagen, ah, danke, dass ich ernst genommen werde. Also für mich ist das wirklich ein wichtiger Aspekt. Das klingt vielleicht etwas böse gegenüber denen, die viel erläutern, was ja vielleicht dann einfach für eine andere Zielgruppe gedacht ist, aber ich fühle mich dann selber nicht ernst genommen. Als könnte ich nicht selbst mitdenken. Das ist dann so mein Gedanke.

[Nils] Das freut mich sehr, dass du das so siehst, genau das habe ich mir gewünscht für den Roman.

[Sandra] Wofür nimmst du dir jetzt gerade die Zeit? Schreibst du etwas Neues?

[Nils] Ich bin an einem Terraforming-Buch dran, das auf zwei Zeitebenen spielt. Und das ist sehr, sehr fordernd. Du musst ja alles, wirklich alles erklären, speziell beim Terraforming, wo es um eine ganze Welt geht, mit einem ökologischen System, veränderter Schwerkraft und Genetik und anderen komplexen Zusammenhängen. Ich mache das wahnsinnig gerne und habe unglaublich viel gelernt in der Recherche. Aber es dauert, bis du etwas geschrieben hast, an das du selbst glaubst.

[Sandra] Wie recherchierst du? Liest du andere Literatur oder eher Sachbücher oder Artikel?

[Nils] Vor allem Sachbücher und Artikel in Fachzeitschriften, es gibt ganz viel. Ich habe auch ein paar Kontakte, die ich fragen kann. Inzwischen gibt es sogar vom wissenschaftlichen Springer Verlag ein englisches Sachbuch zum Terraforming. Das Thema rückt gerade aus der Science Fiction raus, jetzt gibt es die ersten Wissenschaftler, die das ernster nehmen. So absurd es zurzeit noch ist, aber aus der Nerd-Ecke wandert es raus. Das Springer-Buch ist nicht besonders dick und das Cover ein bisschen schludrig. Aber es ist faktenbasiert und das zeigt, dass es da gerade schon einen Epochenwechsel gibt, was die grundsätzliche Einstellung zum Terraforming angeht. Ich sage jetzt mal so: Das Science-Fiction-Denken wird nicht mehr von vornherein als lächerlich betrachtet, sondern als diskussionswürdige Option. 

Und das ist ja mit der KI dasselbe. Die Figur Zack aus „ATHOS“ wird ja gerade von der Realität mehr als eingeholt. Nicht die holografische Technik, aber alles andere gibt es heute. Es gibt Werbung für Apps, in denen ich mir genau so einen Avatar erstellen könnte. Eine „Frau“, bei der du wählen kannst: rote Haare und große oder kleine Brüste oder sonst irgendwas. Und das ist ja im Gegensatz zu meinem Buch (wo das hoffentlich wahrgenommen wird), völlig ironiefrei ein Geschäftsmodell. Da ist gar keine Distanz, sondern da steht allen Ernstes: Sie ist dir immer wohlgesonnen, sie ist immer lieb zu dir und sieht genauso aus, wie du dir das wünschst. Das kostet nur 4,99 im Monat, diese Freundin. Das ist so krass! Ich glaube, deswegen kommt Science Fiction gerade immer mehr aus der Nerd-Ecke raus, weil so Vieles wahr wird, was lange Zeit nur eine Idee war.

Roman Kernschatten liegt auf einer Wolldecke
Kernschatten © 2023 Nils Westerboer / Hobbit Presse

[Sandra] Und ich hoffe, dass „ATHOS“ auch ganz viele lesen, die genre-fremd sind, weil …, ja, es bietet halt so viel. Und wenn du sagst, dass du das Terraforming-Thema jetzt anhand von wissenschaftlicher Literatur angehst, war das so ähnlich damals, gehen wir mal ganz weit zurück, als du deinen Debütroman “Kernschatten” konzipiert hast?

[Nils] Ich habe damals sehr gerne Wissenschaftsthriller gelesen. Da kam der Wunsch her, so etwas auch mal zu probieren. Die Kernphysik war damals eher unberührt. Es gab den Dan Brown mit „Illuminati“, aber ansonsten schien es mir ein noch unbegangenes Feld. Damals drang die Idee aus der Physik durch, dass es Raum-Dimensionen gibt, die ganz nah sind, aufgerollt in den Dimensionen, die wir hier und jetzt haben. Und die Vorstellung, dass sich da ganz dicht neben uns etwas versteckt, die ganze Zeit schon, fand ich absolut faszinierend. Aber das hat das Buch natürlich in der zweiten Hälfte ins Phantastische gleiten lassen, wo dann die Wissenschafts-Thriller-Leser gerne aussteigen, weil sie sagen: Das hat ja mit Wissenschaft eigentlich nichts mehr zu tun.

[Sandra] Interessant, dass du das sagst, denn das ist genau der Punkt, wo ich aussteige – wenn es eben nicht in die Phantastik geht. Ich mag naturwissenschaftliche Thriller, die einen Phantastikmoment haben. Wie zum Beispiel die Romane von Lincoln/Child, die in vielen ihrer Romane in die phantastische Ebene gehen. Ich war daher froh, dass es genau in diese Richtung ging. „Kernschatten“ habe ich zusammen mit einer anderen Frau gelesen und in einem Podcast drüber gesprochen. Interessant war, dass wir am Ende diese Wesen, ganz unterschiedlich eingeordnet haben. 

Was mich sehr interessiert, ich muss dazu sagen, denn ich kann ja keine Bilder sehen, wenn ich lese, habe Afantasie. Diese Wesen in “Kernschatten” haben für mich Geräusche gemacht, wie so ein Knistern. Und ich hatte das Gefühl, wenn ich sie anfassen würde, hätten sie eine weiche Oberfläche. Hast du eine Vorstellung davon, wie sie ausgesehen hätten, ob sie Geräusche machen, ob du sie vielleicht riechen kannst, anfassen?

Zeichnung eines der Wesen aus Kernschatten
© Nils Westerboer

[Nils] Also bei Geräuschen bin ich vorsichtig, weil ich finde, dass Filme sich zurzeit sehr stark wiederholen in der Art, wie Alien-Sounds umgesetzt werden. Was ich absolut nicht mehr hören kann, ist dieses Insekten-Geräusch. Da denke ich mir, du hast als Sound-Designer so eine Bandbreite an Möglichkeiten und es gibt immer wieder nur dieses Insekten-Geschnorpsel. Das finde ich schade. Da fände ich es fast gruseliger, die sind wirklich stumm. Anfassen – wahrscheinlich weich. Ja, wahrscheinlich weich, sodass du die so zusammendrücken kannst wie ein Kissen. Ihgitt.

[Sandra] Das Geräusch war bei mir in etwa so, als wenn du Papierkügelchen irgendwo liegen hast und es geht ein Wind drauf.

[Nils] Ja, das passt. Mir war da, glaube ich, das Visuelle wichtig, dass die quasi aussehen wie Schatten und dass du im Grunde dieses Tier eigentlich nicht plastisch siehst, sondern du siehst den Umriss und guckst in ein Loch. Also eigentlich sind sie ein Loch, aber eins, das sich fortbewegen kann.

[Sandra] Ich finde schön, dass „Kernschatten“ nochmal rausgekommen ist, auch wenn es sprachlich komplett anders ist als „ATHOS 2643“, es liegen ja auch viele Jahre dazwischen.

Dein Terraforming-Projekt, hast du da schon ein Ziel, wann du fertig sein möchtest?

[Nils] Es wäre sehr schön, wenn ich’s bis zum nächsten Sommer schaffe. Aber die Zeit rast. Beruflich habe ich nur zwei Tage Zeit in der Woche, in denen ich schreibe. Und diese liegen nicht zusammen. Da wäre ein absolutes Gedächtnis toll. Aber das ist halt nicht, man ist eben nur ein Mensch. Dazu einer, der nicht jünger wird. Ich hoffe, dass ich es bis dahin packe, aber es liegt noch etwas an Strecke vor mir.

[Sandra] Da bin ich sehr gespannt! Gibt es eigentlich den für „ATHOS“ angewendeten Wortschöpfungsprozess jetzt auch im neuen Roman? Also gibt es Dinge, für die brauchst du ein neues Wort und das ergibt sich dann einfach so?

[Nils] Ich mache es auch wieder, werde es aber etwas vorsichtiger tun als bei „ATHOS“. Zu jedem Wort, das in „ATHOS“ auftaucht, gibt es, früher oder später, eine Erklärung. Ich habe mir vorgenommen, ein bisschen leserfreundlicher zu sein. Es wird also ähnlich werden, eine andere Zukunft muss dich mit neuen Worten konfrontieren, aber die Konfrontationen werden vielleicht nicht ganz so hart und häufig ausfallen wie bei „ATHOS“.

[Sandra] Also ich würde mich freuen, wenn du nicht so viel Rücksicht nimmst. :)

[Nils] Das ist jetzt der Spagat. Klar möchte man sich treu bleiben, und die Art und Weise soll denen gefallen, die „ATHOS“, mochten. Aber ich wünsche mir, dass es auch denen gefällt, die gerne ein bisschen schneller wissen möchten, woran sie sind, ohne dass es dadurch gleich platt wird. Beim Terraforming ist schon viel geplant an Überlegungen, zum Beispiel, was es eigentlich bedeutet, auf eine andere Welt zu kommen und massiv in ihr Ökosystem einzugreifen, auch wenn es dort (noch!) kein intelligentes Leben gibt.

[Sandra] Sehr interessant und sehr philosophisch, wo man da dann auch wahrscheinlich gedanklich hin abdriftet.

[Nils] Es geht stärker ins biologische und soziale. ATHOS, würde ich sagen, ist mehr ein philosophisches Buch.

[Sandra] Ich hoffe, dass du die Zeit findest und dass wir das dann irgendwann bekommen, vielleicht Ende nächstes Jahr.

[Nils] Ja, vielleicht ist es dann soweit.

[Sandra] Ich bedanke mich ganz, ganz herzlich für deine Zeit, Nils, die ja knapp bemessen ist. Schließlich musst du dein Terraforming-Projekt voranbringen, sodass wir irgendwann dort siedeln können. Da würde ich mich wirklich sehr drüber freuen. Und ich danke dir ganz herzlich. Es war ein wunderschönes Gespräch. Vielen Dank!

[Nils] Danke dir auch für die Einladung, es hat riesig Spaß gemacht!

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Titel: ATHOS 2643
Autor: Nils Westerboer
Verlag: Hobbit Presse / Klett-Cotta Verlag
Ausgabe: Paperback (Klappenbroschur), 432 Seiten, 18 Euro, ISBN: 978-3-608-98494-1
Link zum Titel und zur Leseprobe beim Verlag

Cover Roman Athos 2643
ATHOS 2643 © 2022 Nils Westerboer / Hobbit Presse

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Titel: KERNSCHATTEN
Autor: Nils Westerboer
Verlag: Hobbit Presse / Klett-Cotta Verlag
Ausgabe: Taschenbuch, 233 Seiten, 12 Euro, ISBN: 978-3-608-98690-7
Link zum Titel und zur Leseprobe beim Verlag

Cover Buch Kernschatten
Kernschatten © 2022 Nils Westerboer / Hobbit Presse

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1 Comment

  • Hjouston
    14. Oktober 2023 at 21:46

    Auf nach Athos, ganz ehrlich 😉
    Vielen Dank für das lange, interessante Interview!

    Reply

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